Für ein starkes, stabiles Ich

Interview mit Diplom-Psychologe Benjamin Pause über Wege zu einem erfüllten Arbeitsleben

Arbeit ist das halbe Leben, heißt es, und so bildet dieser wichtige Lebensbereich auch den Auftakt unserer Gesundheitskampagne. Wie können wir mehr Sinn bei der Arbeit finden, unsere Stärken und Potenziale nutzen und ein erfüllteres Berufsleben führen? Wir haben Benjamin gefragt.

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Benjamin Pause

Der Arbeitspsychologe Benjamin Pause ist Geschäftsführer des Instituts für Diagnostik, Prävention und psychische Gesundheit. Er und sein Team beschäftigen sich intensiv mit Betrieblichem Gesundheitsmanagement und nachhaltigen Veränderungsprozessen auf Verhaltens -und Verhältnisebene. Themenschwerpunkte sind u.a.: Betriebliche Diagnostik, Mitarbeitergesundheit, Selbst- und Stressmanagement, Führung und Gesundheit sowie Teamkommunikation.

Benjamin hat schon unseren Ratgeber "Zeit für Achtsamkeit" geschrieben und diverse Online-Voträge zu diesem Thema gehalten.

Benjamin, täuscht der Eindruck, oder erleben immer mehr Menschen ihren Beruf eher als Last und weniger als Erfüllung?

Der Eindruck täuscht leider nicht, die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Die aktuelle Gallup-Studie zur Mitarbeiterbindung zeigt einen historischen Tiefstand: Nur noch 9 % der Beschäftigten in Deutschland verspüren eine starke emotionale Bindung zu ihrem Arbeitgeber. Das ist wirklich alarmierend, wenn man bedenkt, dass wir einen Großteil unseres Lebens bei der Arbeit verbringen.

Aber warum ist das so?

Aus unserer Erfahrung in der Arbeitspsychologie sehen wir mehrere Faktoren: Fast die Hälfte aller Beschäftigten berichtet über starken Termin- und Leistungsdruck. Dazu kommt eine zunehmende Informationsflut und oft das Gefühl, in einem Hamsterrad zu laufen, ohne zu wissen, wofür eigentlich. Sinn in der Arbeit zu finden ist deshalb so wichtig, weil er wie ein Kompass funktioniert. Wenn Menschen verstehen, warum sie tun, was sie tun, und wie ihr Beitrag in ein größeres Ganzes einzahlt, dann können sie auch schwierige Phasen besser meistern. Sinn gibt Energie, während sinnlose Tätigkeiten Energie rauben. Das ist nicht nur ein schönes Gefühl – das hat messbare Auswirkungen auf Gesundheit, Leistungsfähigkeit und letztendlich auch auf den Unternehmenserfolg.

Menschen in sozialen und helfenden Berufen erleben ihre Arbeit oft als sinnstiftend und sind mit Herzblut bei der Sache. Was ist für sie wichtig, damit ihre Begeisterung im Laufe der Jahre nicht verloren geht?

Das ist ein wunderbarer Punkt! Menschen in sozialen und helfenden Berufen haben einen riesigen Vorteil – sie spüren täglich, dass ihre Arbeit einen Unterschied macht. Aber genau das kann auch zur Falle werden. Das Herzblut, das Sie ansprechen, ist Fluch und Segen zugleich. Diese Menschen geben oft alles, manchmal zu viel. Deshalb ist es so wichtig, dass sie lernen, auch auf sich selbst zu achten. Wir sprechen hier von organisationaler Resilienz – nicht nur die einzelne Person muss stark sein, sondern auch die Strukturen um sie herum. Drei Dinge sind aus unserer Sicht besonders wichtig: Erstens brauchen diese Menschen regelmäßige Reflexionsräume. Zeit, um über das Erlebte zu sprechen, es zu verarbeiten und auch zu feiern, was gut gelaufen ist. Zweitens benötigen sie eine Führungskultur, die Grenzen respektiert und Überlastung frühzeitig erkennt. Und drittens – das ist oft unterschätzt – brauchen sie Entwicklungsmöglichkeiten. Auch in helfenden Berufen ist es wichtig, dass Menschen wachsen können, neue Kompetenzen entwickeln und sich nicht in der immer gleichen Routine verlieren. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, Ersthelfer für psychische Gesundheit auszubilden. Das sind Kollegen, die sensibilisiert sind für Warnsignale und wissen, wie sie unterstützen können. So entsteht ein Netzwerk der gegenseitigen Fürsorge.

Was sind denn Warnzeichen dafür, dass etwas falsch läuft?

Die Warnzeichen sind oft subtiler, als man denkt. Viele Menschen warten, bis sie völlig erschöpft sind, aber dann ist es meist schon sehr spät. Frühe Warnsignale sind zum Beispiel, wenn die Gedanken auch nach Feierabend ständig um die Arbeit kreisen. Wenn man morgens schon mit einem mulmigen Gefühl aufwacht oder wenn kleine Probleme plötzlich riesig erscheinen. Auch körperliche Signale wie Schlafstörungen, häufige Kopfschmerzen oder eine erhöhte Anfälligkeit für Infekte können Hinweise sein. Auf organisationaler Ebene sehen wir Warnsignale wie steigende Krankenstände, erhöhte Fluktuation oder wenn das Betriebsklima merklich schlechter wird. Gegensteuern funktioniert am besten auf mehreren Ebenen. Individuelle Strategien wie Stressmanagement und Achtsamkeit sind wichtig, aber sie reichen nicht aus, wenn die Strukturen krank machen. Wir brauchen auch organisationale Veränderungen: klare Prozesse, realistische Ziele und eine Kommunikationskultur, in der Probleme angesprochen werden können, ohne dass man Angst haben muss.

Die Haltung zur Arbeit verändert sich ja auch im Laufe des Lebens

Die Arbeitswelt wird immer älter, der demografische Wandel ist in vollem Gange – und tatsächlich verändern sich die Prioritäten im Laufe des Lebens erheblich. Jüngere Menschen sind oft sehr leistungsorientiert, wollen sich beweisen, Karriere machen. Mit den Jahren verschiebt sich das oft hin zu mehr Sinnorientierung. Erfahrene Mitarbeitende fragen sich: Was ist wirklich wichtig? Welchen Beitrag möchte ich leisten? Sie werden zu wertvollen Mentoren und Wissensträgern. Gleichzeitig bringen verschiedene Generationen unterschiedliche Stärken mit: die Erfahrung der Älteren, die Innovationskraft der Jüngeren, die Stabilität der mittleren Generation. Wenn wir das geschickt kombinieren, entstehen richtig starke Teams. Wichtig ist, dass Unternehmen lebensphasenorientiert denken. Ein 25-Jähriger hat andere Bedürfnisse als eine 55-Jährige. Flexible Arbeitsmodelle, unterschiedliche Entwicklungswege, altersgemischte Teams – das sind Ansätze, die funktionieren. Und ehrlich gesagt: Viele ältere Mitarbeitende haben eine Gelassenheit entwickelt, die in unserer hektischen Zeit Gold wert ist. Sie wissen, was wirklich wichtig ist und lassen sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen.

In dem Programm, das du für die BKK Diakonie entwickelt hast, thematisierst du auch die Work-Life-Balance mit der Frage „Mythos oder tatsächlich möglich?“ Was ist deine Antwort?

Ah, die berühmte Work-Life-Balance! Ich muss gestehen, der Begriff ist mir manchmal etwas zu statisch. Als würde es eine perfekte Waage geben, die immer im Gleichgewicht stehen muss. Die Realität ist dynamischer. Es gibt Lebensphasen, da steht die Karriere im Vordergrund – zum Beispiel beim Berufseinstieg oder bei wichtigen Projekten. Dann gibt es wieder Zeiten, wo das Private wichtiger ist – bei der Familiengründung oder wenn Angehörige Pflege brauchen. Ich spreche lieber von Work-Life-Integration. Es geht darum, dass beide Bereiche sich ergänzen, statt sich zu bekämpfen. Wenn ich in der Arbeit Sinn finde und mich entwickeln kann, dann bereichert das auch mein Privatleben. Und wenn ich privat ausgeglichen bin, bringe ich mehr Energie in den Job mit. Möglich ist das definitiv, aber es braucht bewusste Entscheidungen und manchmal auch Mut. Mut, Nein zu sagen, wenn die Belastung zu hoch wird. Mut, Prioritäten zu setzen. Und es braucht Unternehmen, die das unterstützen – mit flexiblen Arbeitszeiten, Homeoffice-Möglichkeiten, einer Kultur, die Erholung wertschätzt. Die Pandemie hat uns gezeigt: Vieles geht, was wir vorher für unmöglich gehalten haben. Jetzt müssen wir die guten Erkenntnisse bewahren und weiterentwickeln.

In einem anderen Workshop geht es um das „persönliche Ikigai“. Was kann man sich darunter vorstellen?

Das persönliche Ikigai ist ein wunderbares Konzept aus Japan. Es beschreibt den Grund, warum wir morgens aufstehen, unseren Lebenssinn. Ikigai entsteht dort, wo sich vier Bereiche überschneiden: was ich liebe, was ich gut kann, was die Welt braucht und womit ich meinen Lebensunterhalt verdienen kann. In unserem Workshop machen wir das sehr praktisch. Die Teilnehmenden erkunden zunächst ihre echten Stärken – nicht das, was sie glauben, gut zu können, sondern das, was sie wirklich energetisiert und wo sie in den Flow kommen. Wir arbeiten mit validen Diagnoseverfahren, aber auch mit persönlichen Reflexionsübungen. Dann schauen wir: Wo sind diese Stärken gefragt? Wie kann ich sie in meinem aktuellen Job besser einsetzen? Oder braucht es vielleicht eine Veränderung? Manchmal sind es kleine Anpassungen – ein anderer Aufgabenbereich, mehr Projektarbeit, weniger Routine. Manchmal sind es größere Schritte. Das Schöne am Ikigai-Konzept ist: Es geht nicht nur um Karriere und Beruf. Es geht um ein stimmiges Leben. Wenn jemand merkt, dass seine Berufung im Ehrenamt liegt und der Job „nur“ der Finanzierung dient, kann dies völlig in Ordnung sein, solange es bewusst gewählt ist. Die Teilnehmenden entwickeln am Ende ihren persönlichen Kompass. Etwas, das ihnen hilft, Entscheidungen zu treffen und ihren Weg zu finden.

Was bedeutet aus deiner Sicht ein erfülltes Arbeitsleben? Und was trägt zur Arbeitszufriedenheit bei?

Ein erfülltes Arbeitsleben hat für mich drei Dimensionen: Sinn, Wachstum und Verbindung.

Sinn bedeutet: Ich verstehe, warum ich tue, was ich tue. Meine Arbeit hat einen Zweck, der über das reine Geldverdienen hinausgeht. Das kann der Beitrag zu einem wichtigen Projekt sein, die Hilfe für andere Menschen oder auch die Entwicklung von etwas Neuem.

Wachstum heißt: Ich entwickle mich weiter, lerne dazu, werde besser in dem, was ich tue. Stillstand macht auf Dauer unzufrieden. Menschen brauchen das Gefühl, dass sie sich entfalten können.

Verbindung bedeutet: Ich arbeite mit Menschen zusammen, die ich schätze, in einem Umfeld, das mich respektiert und wo ich authentisch sein kann. Wir sind soziale Wesen, auch bei der Arbeit. Zur Arbeitszufriedenheit trägt außerdem bei: eine Führungskultur, die Vertrauen schenkt, statt zu kontrollieren. Faire Bezahlung – nicht unbedingt die höchste, aber eine, die als gerecht empfunden wird. Flexibilität, um Beruf und Privatleben zu vereinbaren. Und die Möglichkeit, auch mal Fehler zu machen, ohne gleich abgestraft zu werden. Was oft unterschätzt wird: Auch kleine Rituale können viel bewirken. Ein Team, das seine Erfolge feiert. Ein Chef, der ehrliches Feedback gibt. Kollegen, die sich gegenseitig unterstützen. Das sind oft die Dinge, die den Unterschied machen.

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